(Pop)Musik und tanzende Ekstase

Über Beats als Droge

Die Wurzeln der meisten ekstatischen Elemente heutiger Popmusik liegen im Amerika des 19. Jahrhunderst – genauer: in New Orleans, der lange Zeit einzigen Stadt, in der es Sklaven erlaubt war, sich an Sonntagen zu treffen, Musik zu machen und dabei Trommeln zu verwenden. Die Musik und die Tänze, die dabei getanzt wurden, beschrieb Henry Edward Durell 1853 so:

“Er [der Musiker] sitzt rittlings auf einem Faß von großem Umfang, das er mit zwei Stöcken schlägt. Er schlägt unablässig, wie verrückt und stundenlang, während der Schweiß in Strömen fließt und den Boden nässt; […] Sie [die männlichen und weiblichen Tänzer] befinden sich in einer Atmosphäre der Besessenheit, die jegliches Gefühl der Müdigkeit von ihren Gliedern nimmt und ihnen eine Schnelligkeit und Ausdauer verschafft, die sonst höchstens noch bei Maschinen zu finden ist. Der Kopf ruht auf der Brust oder ist hinter die Schultern zurück geworfen, die Augen sind geschlossen oder starren ins Nichts, während die Arme, von Schreien und Zurufen und ekstatischen Zuckungen begleitet, durch die Luft fliegen, oder sie ruhen und die Hände schlagen den Takt der Musik auf die Oberschenkel, den Takt der Musik, der unendlich zu sein scheint.”

Michael Ventura fügt ergänzend hinzu:

Seit Anfang des 19. Jhd. interessierten sich die Weißen – vor allem die weißen Frauen – sehr für Voodoo, insbesondere für seine ekstatischen Praktiken.[1]

Tanzseuchen und die Herrschaft der Geometrie

Um sich die fundamentalen Unterschiede der damaligen “weißen” und “schwarzen” Musik zu verdeutlichen genügt ein kurzer Blick auf die Geschichte des europäischen Tanzes bis zu diesem Zeitpunkt: Spätestens im Mittelalter setzte vor dem Hintergrund der gerade entstehenden höfischen Gesellschaften eine Entwicklung ein, in deren Verlaufe in den höfischen Tänzen die Tanzbewegungen immer exakter durchstrukturiert wurden, Tanz eine immer repräsentativere Rolle einnahm und immer weniger mit lustvoller Bewegung zu tun hatte. Tanzmusik sollte nicht, wie es für die Tanzmusik des einfachen Volkes galt, besonders mitreißend sein, in die Beine gehen, sondern vor allem der Ordnung dienen, der Ordnung und Abstimmung der im Tanz sich Bewegenden, für deren komplizierte Tanzfiguren sie als Gerüst herhalten musste. Die tänzerischen Bewegungen wurden restringierend und langsam: “Das Becken bewegt sich nicht, weil der Körper vom Rumpf bis zum Scheitel ruhig gehalten wird”[2].Die Tanzfiguren selbst hatten sich, besonders beim höfischen Ballett, das von Mitgliedern des Hofstaates getanzt wurde, im Barock um den König zentriert; er war der Mittelpunkt des Geschehens, um ihm Ehre u erweisen wurde überhaupt getanzt, und in jedem Element des Tanzes sollten sich sein Glanz und seine Herrschaft spiegeln – Tanz als Mittel der Durchsetzung und Festigung dieser Herrschaft, Haltung als Distinktion der Nobilität. Zur selben Zeit manifestierte sich in der Minne-Lyrik erstmals ein nicht nur religiöses Ideal der Keuschheit.

“Grundlegendes Darstellungsmittel und Ordnungsprinzip war die Geometrie. Die Menschen überließen Tanzbewegungen nicht einem von innen kommenden Schwung, sie brachten sie in genau kalkulierte ‘positures’, in geometrische Linien und Haltungen, die es einzustudieren galt”.[3]

Die Betrachtung von Tanz nahm geradezu militärische Züge an; die Tanzenden die Gestalt einer Truppe, deren Bewegungen koordiniert werden müssen, und es herrschte das Prinzip der Monometrik: ausschließlich die erste Taktzeit wird betont. Die Gefahr ungebändigter Bewegungen ist eben unbedingt zu vermeiden“[4], Ursula Fritsch schreibt:

„Es besteht also eine institutionell breit angelegte Zähmungs-Agitation gegen das Tanzen: alle wilden, „unzüchtigen“ Anteile, das Drehen, Hochspringen, Stampfen, Umarmen, Jauchzen, Schwingen … sollen auf jeden Fall ausgeschaltet werden, selbst das mathematisiert-kunstmäßige Tanzen unterliegt mit dem Aufschwung pietistisch-asketischer
Lebensvorstellungen heftiger Kritik.“[5]

Zur dieser Zeit waren die berüchtigten Tanzepidemien des Mittelalters im einfachen Volk noch keineswegs erloschen; in Italien sollen noch bis ins 18. Jhd. hinein Menschen dem Tarantismus verfallen sein:

„Männer und Frauen, Handwerker und Gesinde, Kinder und Bedienstete rissen sich plötzlich aus ihrer sozialen Umwelt und ihren Verpflichtungen los und schlossen sich den Zügen frenetisch tanzender Menschen an. In den vielen Stunden dauernden, von Musik und wilden Schreien begleiteten Tanzzügen erlangen viele in Stadien körperlicher Erschöpfung Visionen und mystische Erfahrungen, andere fühlen sich von Dämonen besessen und erbitten von den Priestern die Vornahme eines Exorzismus.“[6]

Der Veitstanz und der Tarantismus sind beide Formen von Tanzwut, die wir uns heute wohl kaum noch vorstellen können. Der Veitstanz als eine Art Seuche, buchstäblich ansteckend, von dem manche Opfer Sage und Schreibe nach nur durch den völligen Zusammenbruch erlöst wurden, wird heute teilweise mit einer Verseuchung des Weizens durch den Mutterkorn-Pilz erklärt, was allerdings keine Erklärung für die erfolgten ‘Ansteckungen’ liefert. Im Gegensatz dazu galt der Tarantismus als Heilmittel gegen den Biss der Tarantel, war jedoch nicht minder ansteckend.[7] Während sich diese Extreme auf Dauer nicht halten konnten, bzw. im Falle des Balletts die Körperberherrschung an Spezialisten abgegeben wurde, geriet zugleich der immer bürgerlicher werdende Gesellschaftstanz in eine Krise: So sehr auch versucht wurde, durch die hofgerechte Umformung und Aufnahme verschiedener Volkstänze oder die Wiederbelebung älterer Tänze der Abnutzung und Strenge Abhilfe zu verschaffen – er wurde langweilig.

Ich bin runter vom Beat, Mann! Zieh mich rein, bitte, zieh mich rein, ich kann nicht alleine!

Nachdem sich das Bürgertum ab Ende des 18. Jhd. noch einmal am Walzer berauscht hatte – an dem die aristokratisch-höfische Gesellschaft nur noch durch Naserümpfen teilhatte, bevor sie für die weitere Entwicklung des Gesellschaftstanzes jegliche Bedeutung einbüßte – und sich aber auch dieser irgendwann abgenutzt hatte, wandte sich ein Teil der bürgerlichen Jugend völlig vom Gesellschaftstanz und zumindest teilweise auch von der dazugehörigen Gesellschaft ab und vergnügte sich zunächst mit den ‘bindenden, gesellenden Reigen des Volkes und der Kinder’[8]. Die damit verbundenen Vorstellungen sowohl vom “Volk”, als auch von dessen Tänzen, waren jedoch bereits durch einen bestimmten Blick gefiltert, der die Einfachheit als Merkmal der moralischen Reinheit im Gegensatz zur “bourgeoisen Dekadenz” verstand. Insofern galten diese Tänze kaum dem entfesselten körperlichen Vergnügen, schon gar nicht dem geschlechtlichen, sondern vielmehr der Erstickung solcher Regungen im keuschen, kindlichen Reigen. Ein Reigen ist schon der Form nach ein
Tanz, der die maximale Kontrolle des Einzelnen durch alle ermöglicht, keine Intimität zwischen zwei bestimmten Personen zulässt und die Bewegung des Körpers auf ein sehr enges Schema eingrenzt. Änderungen an diesem Schema sind nur im Einklang mit allen anderen möglich. Auch musikalisch muss das als Regression aufgefasst werden.

Der andere Teil der Jugend und mit ihm mehr oder weniger die Gesellschaftstanz-Gesellschaft als ganzes verfiel von nun an – und man kann wirklich sagen, bis heute – immer wieder neuen ‘negeramerikanischen’ und ‘kreolischen’ Tänzen. Mit dem ‘Maxixe’ 1890 und dem ‘Cakewalk’ ca. ein Jahrzehnt später begann eine Kette von `Tanzimporten’ bzw. ‘Inspirationen’ der weißen Bürger durch die Musik und die Tänze der amerikanischen Farbigen, nicht ohne dass diese Tänze fast immer einen Prozess der Assimilation und vor allem auch der ‘Entschärfung’ durchmachten (die Tänze sind von den dazugehörigen Musiken und vor allem Rhythmen kaum zu trennen). Ungeachtet des Umstandes, dass einigen europäischen Tänzen dies schon vorher wiederfahren war, schreibt der später in die USA emigrierte Musikwissenschaftler und Ethnologe Curt Sachs 1933 von der “Entselbstung, die alle diese Tänze auf europäischem Boden durchgemacht haben” bzw. So hat unsere eingeebnete Zivilisation den fremden Tänzen alles entzogen, was in ihnen urtümlich, stark und ekstatisch ist. Der Rassismus als Faszination für das Fremde und noch “ursprünglich Starke”, dem die körperliche Ekstase als etwas grundsätzlich uneuropäisches erscheint, erschwert es wahrzunehmen, dass diese Tänze einerseits erst in Amerika entstanden sind, also sehr jung im Verhältnis zu den meisten europäischen Tänzen, und andererseits gerade die afrikanischen Tänze, als deren Nachfahren sie empfunden werden, an Komplexität die europäischen locker überbieten. Ähnlich liest es sich 1959 bei Jazzkritiker Joachim Ernst Berendt:

“Aber alle diese Tänze sind schlagartig ihrer Ursprünglichkeit beraubt, sobald sie als Gesellschaftstänze akzeptiert werden. … Alles, was eben noch das Kennzeichen dieser Tänze war – das Ursprüngliche, das Dionysische, der Ausbruch – fällt von ihnen ab; es bleibt nichts als ihr Klischee.”

Berendt bezeichnet die afroamerikanischen Tänze als Manifest des Ausbruchs, was zumindest in ihren “sklavischen” Ursprüngen eine Berechtigung findet. Abgesehen davon findet man hier eine Unterscheidung zwischen ‘inoffiziellem’ Tanzen und Gesellschaftstanz; ersteres wird als äußerst lebendig und auch kreativ im Schaffen neuer Formen geschildert, letzterer als langweilig und sich nur über die
Adaption frischer Tanzstile ‘von unten’ am Leben haltend[9]. Wobei der heutige ‘Jugendtanz’ eindeutig diesem ‘inoffiziellen’ Tanzen entspringt, aber so eine breite Akzeptanz erfährt, dass die Vorstellung, Tanz könnte “subversiv” sein, für die gegenwärtige Gesellschaftsordnung eine Bedrohung darstellen, fast antiquiert erscheint.

Ich habe meinen Beat wieder
Komm mein Bester
Komm doch komm komm
Mein Beat Beat Beat
Komm

Die spezifische Anziehungskraft von Musik und Tanz auch jenseits rassistischer Projektionen und diffuser Ausbruchsphantasien lässt sich aber durchaus präzisieren: H. Williams spricht in seinem Buch Musik und Entspannung davon, dass das Erleben von Musik viel mehr als anderes Kunsterleben von “körperlich physiologischen, im engeren Sinne vegetativen Reaktionen, die Ausdruck des Phänomens Spannung und Entspannung sind”[10] geprägt sei. Dennis Wier, Computerspezialist und ‘Bewußtseinsforscher’:

“There is a part of any music that does induce trance. Sometimes it is only the trance inducing aspect of music which many people feel is what makes music successful or not. Why is this? Because people get pleasure when they are in a trance. Therefore, if you can make better trances through music, then people will like your music.”[11]

Felicitas Goodman bezeichnet

“die Stimulation des Gehirns mit materiellen Mitteln, meist rhythmischer, monotoner Art, etwa durch Trommeln, Rasseln, Singen, Klatschen, Stampfen oder auch visuelle Reize wie Kerzenflackern, gleißendes Licht, Sonnenreflexe”

als die erste, ‘biologische’ Komponente von Trance und Ekstase.[12]

Der Musikpsychologe Helmut Rösing, bei dem diese Phänomene ebenfalls als etwas betrachtet werden, das nur bei fremden bzw. “primitiven” Völkern vorkommt, unterscheidet noch einmal zwischen Ekstase und Trance bzw. Besessenheit. Wenn diese Phänomene mit Musik verknüpft seien, ließe sich diese so beschreiben:

„Musik hat bei Ekstase und Trance oft, aber nicht immer eine wichtige Funktion: Ihre (rhythmisch-klanglichen) Merkmale unterscheiden sich bei an sich geringer Variation in beiden Zustandsformen dementsprechend: extrem konstantes Tempo bei Ekstase, kontinuierliche Steigerung des Tempos und/oder der Lautstärke bei Besessenheit.”[13].

Die Unterscheidung von Trance und Ekstase ist nicht leicht; im Folgenden werde auch ich keine klare Definition verwenden, aber als Ekstase meist den Zustand bezeichnen, in dem die Adrenalin-, Noradrenalin-, und Cortisonspiegel nach einem anfänglichen Anstieg unter den ursprünglichen Wert fallen, vermehrt Beta-Endorphine ausgeschüttet werden, der Blutdruck fällt während der Pulsschlag sich extrem beschleunigt, das Gehirn in Theta-Wellen schwingt (und nicht in Alpha-Wellen wie sie z.B. bei Meditation gemessen werden können), und die `Negativaufladung des elektrischen Gleichstrompotenials im Gehirn’ auf 1500 bis 2000 Mikrovolt steigt (bei Konzentration auf eine schwierige Aufgabe werden nicht mehr als 250 Mikrovolt gemessen)[14]. Wie dieser Zustand empfunden und interpretiert wird, ist ein noch viel empfindlicheres Thema; ich halte mich an diese Beschreibung als „Richtwert“:

„Mich überkam ein grenzenloses Gefühl der Freiheit. Wut und Frustration schossen aus mir hinaus und das Gefühl, das ich bei diesem Ausbruch empfand, war pure Freude“.[15]

Als Trance bezeichne ich Zustände, die diesem nahe kommen, aber nicht ganz diese Intensität erreichen oder all diese Kriterien erfüllen.

Das Gefühl der Ekstase im Sinne des wilden und ungezügelten Lusterlebens

Zurück zur Musik: Helmut Rösing schreibt über Musik in schamanistischen Zusammenhängen von der auffällig rauhen Stimmgebung des Schamanengesangs, und weiter, dass

“hochfrequente Klangteile von Rasseln, Schellen, Becken und anderen metallischen Idiophonen an der Tanzkleidung und an der Rahmen-Trommel sowie eine zischende, sirrende, summende Vokalisation”

typisch seien [16](zur Illustration für Leute mit RealMediaPlayer: “Lucky Star” von den Basement Jaxx). Auch wenn Rösing noch kurz vorher meint, es gäbe “keine gemeinsamen musikalischen Merkmale, die kausal Trance-induzierend” wirken, so schreibt er, dass sich als ‘allgemeinste musikalische Merkmale’ folgende Eigenschaften feststellen lassen:

“…einerseits kontinuierliche Steigerung des Tempos und/oder der Lautstärke, andererseits extreme Konstanz und Monotonie, ferner eine lange Dauer, einfache Formen, minimale Variationen bei vielfachen Wiederholungen […] keine prägnanten Motive, hingegen Stufenschritte, Tonumspielungen […] gelegentlich gibt es aber auch komplexe Partverschränkungen (Stimmkreuzungen), die eine eindeutige Auflösung in Stimme nicht zulassen. Eine konstante Klangfarbe, tiefe, pulsförmige Strukturen aber auch scharfe, hochfrequente Modulation scheinen förderlich zu sein. Akustische Auslöser der Trance sind oft bestimmte transitorische Vorgänge und Akzentuierungen wie langsame, konstant an- und abschwellende Amplitudenhüllenkurven”.

Womit wir uns z.B. mitten auf einer Goa-Party befinden. Dennis Wier macht es sich ein bisschen leichter:

„’Pure’ trance inducing music is simple to produce. All that is needed is at least three or four (or more) individually engaging rhythms. Some kinds of reggae music does this, so do the canons of J.S.Bach …The ‘engaging’ aspect of trance inducing rhythms is important.”[17]

Über die vegetativen Veränderungen, die Musik im Körper eines Menschen bewirken kann, schreibt Williams, dass ein “neuer, ungewohnter akustischer Reiz, eine neue musikalische ‘Information’ zunächst zu vegetativen Erscheinungen innerer Spannung führt”, dass sich die Spannung im Sinne einer Entspannung aber wieder löse, “sobald die akustische Ereignisfolge vertraut und im weiteren antizipierbar wird”. [18]Außerdem weist er darauf hin, dass der anregende Effekt, die Erzeugung von Spannung auch als Mobilisierung von Energie verstanden werden könne bzw. dass “immer wieder neu eingeführte musikalische ‘Information'” immer wieder zur erneuten Mobilisierung von Energie führe. Man denke an die Funktion des ‘breaks’ in der modernen elektronischen Tanzmusik; bei Williams

“stark rhythmische Musik, die mit innerer Bewegung einhergeht, eindeutig nach dem Prinzip Spannung und Lösung aufgebaut ist, in dem Sinne, dass eine starke Spannung aufgebaut wird, die lustvoll gelöst wird”

und in “dem Gefühl der Ekstase im Sinne des wilden und ungezügelten Lusterlebens” münde. Dieser Weg wirke in jedem Fall muskulär lösend. In diesem Sinne ist es keinesfalls nur eine Phrase, von der ‘Körperlichkeit’ bestimmter Musik zu sprechen. Es ist allerdings sehr wohl falsch dies als Synonym für ‘schwarze’ Musik zu verwenden. Es geht nicht darum, dass “der Rhythmus” manchen bzw. bestimmten Menschen “eben im Blut liegt”, sondern darum, dass manche Musik uns effektiver Gückshormone durch die Adern jagt als andere, und dass die Entwicklung von Musik und Tanz eben nicht in einem extra Universum statt findet.

Pop!

Der Jazz wurde zur Mischform der Musik vom Congo Square mit den klassischen Instrumenten der Weißen „und noch im harmlosesten Stück gab es diesen Beat, der nichts anderes war als die Verweigerung der Trennung von Körper und Geist“[19]. Und der Beat ging einfach nicht mehr weg. Berendt schrieb:

„Es ist interessant, wie sich hier oft die Dreiviertel-Rhythmen des alten spanischen Walzers (…) verbinden mit der Vierviertel-Auffassung der Neger. Beide Rhythmen sind gleichzeitig in ständiger Überkreuzung vorhanden. Solche rhythmischen Vieldeutigkeiten sind überhaupt charakteristische für die aus Nord- und Südamerika stammenden Tänze“.[20]

Wier wiederum:

“Deeper trances are more easily produced when, after some time of engaging rhythms, there are increasingly more subtile rhythm or melodic changes, or if rhythm loops become longer and longer.”[21]

… ( z.B. mehrere Improvisationen über ein Thema). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Rock´n´Roll zum tanzbaren Erbe des immer reflexiver gewordenen Jazz, die bisher letzte Musik, die dazu in der Lage war, in der westlichen Welt unter Weißen wirkliche Riots auszulösen. Der Rock’n’Roll führte über einige Umwege zu dem, was wir heute unter den Bezeichnungen Hardcore und Metall kennen, und auch wenn es den Protagonisten und den Fans dieser Musiken selbst vielleicht gar nicht klar ist, so sind sie doch nicht die wirkungslosesten Ekstase-Werkzeuge; K.Hoffman schreibt zwar scheinbar über ein anderes Phänomen, aber wenn “die kreisende Bewegung des Kopfes im Trancetanz ihren Sinn…” darin hat, dass “das vestibuläre Gleichgewichtsystem im Ohr gereizt wird und eine vermehrte neuronale Tätigkeit im Hirn auslöst”, was gilt dann erst für die Headbangerei?[22] Und im Punk und jedem guten Moshpit ist ein Mechanismus sehr konsequent außer Kraft gesetzt, der in anderen Umgebungen die Hingabe an die Musik, und damit die Wahrscheinlichkeit einer Trance, ganz erheblich beeinträchtigt: die Coolness, bzw. die Angst davor, dumm dazustehen. Pogo hat zumindest das Potential, die körperliche Hingabe an die Musik jedem, unabhängig vom eigenen Talent oder ähnlichem, zu ermöglichen.

“Band, Publikum, der Schweiß, der Sound, Geno und ich: Wir waren eine Einheit im selben Groove“.”[23]

Dass dieses Moment meist nicht besonders deutlich zu Tage tritt und Pogo so sehr von übermäßig randalierenden Teilnehmern geprägt ist, dass alle die nicht so üppig mit Körpergröße oder Kraft ausgestattet sind, ausgeschlossen werden, kann man vielleicht nicht der Form selbst zum Vorwurf machen. Im Punk und Hardcore finden sich zudem zwei der letzten Jugendkulturen, die der gemeinsam erlebten Ekstase einen Sinn zu geben versuchten, indem es nicht nur um das Tanzen an und für sich ging, sondern teilweise auch auf übergeordnete gesellschaftliche Zusammenhänge Bezug genommen wurde. Hier herein spielt die Erkämpfung unabhängiger, ‘unkommerzieller’ Räume, in denen solches überhaupt stattfinden kann. Aufgehobenheit in hemmungsloser Hingabe scheint in einem von vornherein als kommerziell bestimmten Raum mit Fremden, mit denen ich nichts gemein habe als das Bedürfnis zu feiern, kaum möglich. “Der verwaltete und veranstaltete Rausch hört auf, einer zu sein.”[24] Damit tun sich jedoch schon wieder völlig neue Problemfelder auf – ekstatisches Tanzen ist in den allermeisten Fällen etwas, das in Form eines kollektiven Taumels geschieht, und die verheerenden Wirkungen von tatsächlichen Massenekstasen sind hinlänglich bekannt. Das Bedürfnis nach Aufgehobenheit in einer Gemeinschaft und das Entsetzen vor der regressiven Natur der allermeisten gruppendynamischen Prozesse in den allermeisten “zu Auswahl stehenden” Gemeinschaften ist ein nicht gelöstes Dilemma.

Der Soul, der bestimmte, der Ekstase förderliche Mittel aus der schwarzen Kirchenmusik integrierte (-die Stimme von Aretha Franklin-) lässt sich über den Funk mit als Wurzel von HipHop, House und Techno begreifen(“Beats! Beats, beats, beats! That´s what rap music is all about, right? Er, no, not exactly, but it is, what makes people boogie and freak out and do odd dances like the Steve Martin and the Humpty Hump.”[25]). In den Beiträgen zur Popularmusikforschung sind mehrere Abhandlungen erschienen, die sich im Detail mit einzelnen modernen Tanzmusiken befassen[26]; Mitterlehner schreibt z.B. über Techno, dass “qualitativ hochwertige Kompositionen” häufig so angelegt seien, dass sich aus dem Zusammenspiel der Melodielinie mit dem Bass polyrhythmische Konstellationen ergäben, und Pfleiderer geht im Detail auf den Aufbau von Drum’n’Bass-Tracks ein, macht unter anderem die Muster von Wiederholung und Variation der rhythmischen Figuren deutlich und kommt zu dem Schluss:

“Man könnte D´n´B als eine rhythmisch psychedelische Tanzmusik bezeichnen, die nicht nur mit mentalen, sondern auch mit körperlich-motionalen Desorientierungen der Hörer-Tänzer arbeitet.”

Auch wenn jetzt vielleicht ein wenig klarer geworden ist, was passiert, wenn Menschen Musik hören und tanzen, steht eine kritische Analyse dieser Phänomene im Spannungsfeld zwischen individuellem Genuss und kollektivem Klüngel noch aus (weder Adornos Widerwillen noch Marcuses Begeisterung werden dem Phänomen gerecht), ebenso wie eine der entsprechenden Musiken und deren jeweiligem Zusammenspiel – gibt es möglicherweise Musik, die aus dem Klüngel hinauswinkt? Ist es möglich, so viele Brüche in einem Stück Musik unterzubringen, dass die gruppendynamische Verblödung keine Chance hat, der Genuss aber möglicherweise noch gesteigert wird? Was sind die entscheidenden Unterschiede zwischen Marschieren und Tanzen? Worin besteht nun eigentlich der Zusammenhang von Musik, Tanz und Lustempfinden?

Fortsetzung folgt.

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P.S.:Zum Weiterlesen: Ein Text von Martin Büsser über das völlige Unverständnis “linker Zusammenhänge” für radikale Musik fast jeder Couleur – sowohl radikal ekstatischer als auch Neuer Musik und ähnlichem bei beatpunk.org, und das Editorial der Testcard Nr. 13 “Black Music”, in der die Urfassung dieses Artikels erschien. Es befasst sich hauptsächlich mit der Absurdität dieser Bezeichnung und den mit ihr verknüpften rassistischen Zuschreibungen ebenso wie mit dem Umstand der Affirmation dieser Bezeichnung durch die Betroffenen selbst von “Black Pride” bis “Black Butt”.

1: M.Ventura, Vom Voodoo zum Walkman, kein Erscheinungsdatum angegeben

2: D. Stocks, Die Disziplinierung von Musik und Tanz – die Entwicklung von Musik und Tanz im Verhältnis zu Ordnungsprinzipien christlich-abendländischer Gesellschaft, 2000

3: U. Fritsch, Tanz, Bewegungskultur, Gesellschaft – Verluste und Chancen symbolisch-expressiven Bewegens, 1988

4: D. Stocks, ebenda

5: U. Fritsch, ebenda

6: B. Gladigow, Ekstase und Enthusiasmos, in: Rausch – Ekstase – Mystik, hrsg. von H. Cancik, 1978

7: C. Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes, 1933

8: ebenda; gemeint ist die Wandervogel-Bewegung

9: J.E. Berendt, Tanz als Ausbruch, in: Der Tanz in der modernen Gesellschaft, hrsg. von F. Heyer, 1958

10: H. Williams, Zum Phänomen Spannung und Entspannung im Rahmen des musikalischen Erlebens, in: Musik und Entspannung, hrsg. von Harm Williams, 1977

11: D. R. Wier, Trance Inducing Music

12: Zusammenfassung aus: K. Hoffman, Der Begeisterte Körper, 1991

13: H. Rösing, Musik und veränderte Bewußtseinszustände, in: Musikpsychologie – Ein Handbuch, hrsg. von 13: H. Bruhn, R. Oerter, H. Rösing, 1993

14: K. Hoffman, Der Begeisterte Körper, 1991

15: P. Williams, Dieses großartige Rock and Roll Gefühl, 1998

16: H. Rösing, ebenda

17: D.R. Wier, ebenda

18: H. Williams, ebenda

19: M. Ventura, ebenda

20: J. E. Berendt, ebenda

21: D.R. Wier, ebenda

22: K. Hoffmann, Der begeisterte Körper, 1991

23: W. Pieper, Gotta! Gotta! Gotta! – Geno Washington, Ostern 1967, im Marquee Club, London, LÜCKE

24: Adorno, Th. W., Einleitung in die Musiksoziologie

25: H.P. Rockerfella in Careless Talk #2

26: F. Mitterlehner, “Let’s fly together!”, in: Beiträge zur Popularmusikforschung 18, Hrsg.: Helmut Rösing, 1996
A.Baldemair, Trancezendenz, in: Beiträge zur Popularmusikforschung 27/28, Hrsg.: Thomas Phleps, 2001
M.Pfleiderer, Here Comes The Drumz, in: Erkenntniszuwachs duch Analyse, Beiträge zur Popularmusikforschung 24, Hrsg.: Helmut Rösing, Thomas Phleps,1999

Die Zwischenüberschriften sind aus Reinhard Kleists “Fucked”